Nun, der eine oder andere wird mich nur als Blogger und Fotograf kennen. Aber, oho ;-), ich kann auch anders. Ab und zu schreibe ich kleine Gedichte, Textzeilen … und 2008 habe ich mich mal selber gecchallenged und eine Kurzgeschichte geschrieben mit dem vielsagenden Titel “iKill”. Nun habe ich mich durchgerungen, euch mal was anderes als Fotonews und –tipps zu präsentieren, nämlich meine Kurzgeschichte. Natürlich nimmt es mich auch wunder, was ihr davon haltet. … … …
Viel Spass beim lesen.
iKill
Dummer (Z)U(n)fall
Lim Turnerbee schaute nach links und rechts und begutachtete staunend die zerklüfteten Felswände. Er paddelte sein Boot mitten in die Strömung und nahm an Schwung auf. Wieder glitt sein Blick über die krassen Ufer und Felswände. Er war begeistert von den alten Bäumen, wie verrückt sie teilweise aussahen und wo sie überall standen. Er kam mitten im Flussbett um eine Kurve, wich einem Felsen aus und staunte weiter.
Dann sah er vor sich eine Reihe von energiereichen Stromschnellen, fuhr direkt im schnellsten Wasser auf diese zu und flog beinahe über sie hinweg.
Kurz darauf drehte er das Ruder, schlug zwei, drei Mal fest das Ruder ins Wasser, korrigierte noch einmal den Kurs und dann krachte er ungebremst und mit grossem Tempo, das er in den letzten paar Stromschnellen aufgenommen hatte, in einen Felsen. Das Kanu zersplitterte, als wäre es ein Spielzeugboot. Er tauchte unter Wasser, griff nach einem Stein, tauchte auf und schlug sich mit voller Wucht den Stein gegen den Schädel. Die Schmerzen wummerten nur so durch seinen Kopf, dennoch tat er es noch ein zweites und drittes Mal, während er sich mühsam mit dem linken Arm über Wasser hielt.
Während dessen sendete der RFID-GPS-Chip des Kanus mit letzter Energie und abnehmender Funktionalität die letzten SOS-Signale an das booble-Rescue-Programm.
Anschliessend tauchte er wieder unter und begann sich langsam Gedanken zu machen, wie er jetzt wieder an Land käme, so ohne Boot und so ohne RFID- und GPS-Chip.
Er entschloss, sich bis auf Weiteres mit der Strömung treiben zu lassen. Er drehte sich im Wasser auf den Rücken und mit den Füssen voran in die Strömung, dabei liess er alles so zufällig wie möglich aussehen, in der Hoffnung, dass, wenn ihn jemand sehen würde, man ihn für eine Wasserleiche hielte.
Nach ein paar Kilometern, als der Wald am Ufer langsam dichter wurde, liess er sich unauffällig in Richtung Ufer schwemmen und unter ein paar dichten Bäumen kroch er schliesslich langsam die Uferböschung hinauf. Als erstes legte er sich unter die Bäume, um sich auszuruhen. Das Spielen einer Wasserleiche und gleichzeitige Abwehren von Kollisionen im Wasser hatte ihn einiges von seiner Kraft gekostet.
Trotz allem sog er die Luft tief in sich hinein. Denn es war die Luft der Freiheit und der Unabhängigkeit. Die Luft seines grössten Abenteuers!
Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, rappelte er sich auf und begann weiter in den Wald einzudringen. Er bewegte sich vorsichtig im Schutze des Blätterwerkes und achtete darauf, nicht all zu lange auf offenem Gelände zu sein. Er schlug sich zirka eine halbe Stunde quer durch den Wald, dann traf er auf einen dieser alten Wanderpfade, die nun von fast niemandem mehr benutzt wurden.
Er folgte ihm Richtung Norden, wo er langsam in einen steilen Aufstieg überging und dann bei einer in den Felsen gehauene Treppe endete. Nach diesem Aufstieg befand er sich etwa 400 Meter über dem Talboden. Er blickte hinunter und genoss ein Weilchen diesen Anblick. Dann folgte er weiter diesem Wanderpfade, auf und ab, quer durch das Gelände, parallel zum reissenden Fluss am Boden des Tals.
Nach ein paar Kilometern erreichte er während dem Übergang vom Tageslicht zur Dämmerung eine kleine, aus lauter Steinen erbaute Hütte mit einem Dach aus Schiefersteinen, die es wahrscheinlich in ähnlicher Form schon seit mehreren Jahrhunderten gab. Er öffnete die knorrige Tür aus Holz und betrat den relativ düsteren Raum. Bevor er die Tür wieder hinter sich zu machte, zündete er eine altmodische Petrollampe an und beleuchtete so den Raum. Dann entfachte er das aufgeschichtete Holz in der Feuerstelle, damit es im Raum eine angenehme Temperatur werde und legte sich völlig erschöpft auf die Schlafstelle. Langsam versank er in einen tiefen, wohligen Schlaf.
Aufgewacht im schroffen Gebirgswald
Nachdem er sich vom Schlaf losgelöst und mit Konservenfutter verpflegt hatte, begann er damit, sein Basislager zu errichten. Als erstes iniziierte er einen Virus in den dichten Laubbaum direkt vor seiner Hütte. Dieser Virus sorgte dafür, dass im Baum innerhalb von drei Tagen auf Basis von Nanotechnologie eine Antenne wuchs. Mit Hilfe dieser Antenne würde er von nun an Kontakt zu vergessenen Kommunikationssatelliten aufnehmen, um damit ins Internet zu gelangen. So konnte er sich mit unabhängigen Informationen von den wenigen Rebellendörfern, in denen noch IP4-Server standen, welche nicht von booble überwacht wurden, versorgen.
Dann begann er damit, seine versteckte Computeranlage aus dem geheimen Keller der Hütte hervor zu holen und zu installieren.
Als erstes installierte er seine zwei Laptops und eine Solaranlage, die als Baum getarnt war. Anschliessend begann er seine Fabbing-Maschine (3D-Drucker auf Basis von einzelnen Atomen) aufzustellen und an die Systeme zu hängen. Somit war er nun in der Lage aufgrund von Computer-Modellzeichnungen komplette Baugruppen von Grund auf in echt zu produzieren.
Als erste Baugruppe lud er einen neuen, von ihm entwickelten Dematerialisierer, eine Maschine, die Materie in einzelne Atome zerlegt, in den Zwischenspeicher des Zeichnungsprogramms und gab sie direkt an die Fabbing-Machine weiter. Nach Abschluss des Fabbens, dem Aufbauprozesses, aus den einzelnen Atomen würde er damit in der Lage sein, die verschiedensten Materialien in ihre Ur-Elemente zu zerlegen und würde so immer wieder neue Grundmaterie für andere Projekte erhalten.
Nun begann für Lim die nächste Stufe seines Projektes. Er startete damit, eine Serie von 50 Miniatur-Helikopterdrohnen mit seiner Fabbing-Maschine zu produzieren.
Das Design der Drohnen war so ausgelegt, dass sie ohne weiteres mit einer Geschwindigkeit von 180 km/h fliegen konnten. Zudem waren sie für den Radar praktisch unsichtbar. Die Energie bezogen sie von einer Brennstoffzelle, welche über Solarenergie wieder aufgeladen wurde. Doch was ihn wirklich am meisten beeindruckte, waren nach wie vor die acht Raketen, welche jede Drohne mit sich trug, denn deren Sprengkraft war einfach enorm!
Die Evolution der Technik
Bei seiner Einschulung im Jahre 2032, als er fünfjährig war, bekam er, als einer des ersten Jahrganges, bei dem es obligatorisch war, seinen ganz persönlichen Identifikations-Chip auf Basis der GPS- und RFID-Technologie in die Stirn implantiert. Er wusste noch, dass das damals zu Hause zu Aufregungen geführt hatte und dass sich seine Eltern dagegen eingesetzt hatten. Doch obligatorisch blieb obligatorisch und das Entfernen des Chips war bei Strafe verboten. Und so begann seine Koexistenz mit seiner digitalen Identität.
Lim war in einem Kindergarten und lernte das zusammen Spielen, Streiten und Lernen kennen, wie wir es wahrscheinlich alle einmal taten, wobei es nur einen kleinen Unterschied gab. Es waren nämlich viel mehr Geräte und Spielzeuge gechipt als man von aussen her gesehen annehmen konnte.
Die anfängliche Skepsis seiner Eltern gegenüber dem Chip wich der Erkenntnis, dass es sich dabei nur um eine Nebensächlichkeit handelte und dass Lim allem Anschein nach in einem ganz normalen Kindergarten gelandet war.
Das einzige, was sie wirklich bewusst wahrnahmen, aber auch als grossen Vorteil gegenüber ihren eigenen Eltern empfanden, war, dass sie jederzeit nachschauen konnten, wo Lim sich gerade aufhielt, wenn er mal wieder einen kleinen Umweg auf sich genommen hatte.
Was sie alle jedoch nicht ahnten, war, dass schon jetzt im Hintergrund eine Vielzahl von Prozessen eingesetzt hatte, welche nicht mehr aufzuhalten waren. Doch vorerst war noch alles im grünen Bereich. Die Daten waren schliesslich sicher bei der Nationalen Agentur für die innere Sicherheit.
Während seiner Schulzeit erlebte er hautnah mit, wie eine neue Generation des Internets den Einzug in den Alltag erhielt.
Angefangen hatte alles mit dem Web 3.0, dem semantischen, wie sie es so klangvoll zu nennen pflegten. Erst waren es einfach nur intelligente Suchmaschinen, dann kommunizierende Alltagsgegenstände und zu guter letzt kommunizierende Verbrauchsgegenstände.
Sein erstes Haustier bekam er in einem Käfig, der mit Sensoren ausgestattet war und der gleichzeitig im heimischen Netzwerk eingebunden wurde. Je nach dem, ob gerade das Futter oder das Wasser knapp wurde, gab der intelligente Käfig Alarm auf die mobile Kommunikationsplattform, mit der Lim in diesem Zeitpunkt gerade erreichbar war. Selbst die Laufmeter des Hamsters wurden protokolliert. So wurde sichergestellt, dass das kleine Viech ein möglichst angenehmes und vitales Leben führen konnte und von seinen Besitzern im richtigen Masse gepflegt und gehegt wurde.
Selbst die Kühlschränke waren vernetzt und wussten anhand der RFID-Chips immer genau, von was es noch wie viel vorrätig hatte. Schien etwas zur Neige zu gehen oder hatte es von irgendwas zu wenig um einen der Menüplan-Vorschläge zu verwirklichen, so bestellte der Kühlschrank dies selbstständig beim zurzeit kostengünstigsten Lieferanten. Die Bestellung wurde direkt vor das Haus geliefert und in neueren Gebäuden sogar vollautomatisch in den Kühlschrank eingelagert.
Die verschiedenen kommunizierenden Geräte begannen die Emotionen ihrer Benutzer zu lesen und reagierten ausgleichend darauf. Entweder wurde beruhigende Musik abgespielt, entsprechende Lämpchen aktiviert oder das Benutzermenü anders gestaltet. Einfach gesagt, die Computer begannen nicht nur auf Befehle, sondern auch auf Emotionen und Umstände zu reagieren.
Während des Schlafes wurde dem Schlafenden mit einem spezielles Kissen eine sanfte Hirnmassage verpasst, welche dafür sorgte, dass man tiefer und besser schlief, wodurch die Konzentrations- und Lernfähigkeit am anderen Tage massiv gesteigert wurde.
Langsam aber sicher übernahmen Software-Agents und Hardware-Bots die Verwaltung der logistischen Systeme. Vollautomatische Warenlager waren da noch das geringste, denn langsam aber sicher übernahmen sie die Kontrolle und Steuerung aller Verkehrswege. Und am Schluss gab es gar von Menschen gesteuerte Autos nur noch mit Spezialbewilligungen, denn die selbststeuernden Autos waren viel sicherer, was auch die Unfallstatistiken bewiesen.
Die Entwicklung der Computer war unterdessen nicht stehen geblieben und booble pumpte Milliarden in die Entwicklung. Als Folge davon war booble die erste Firma, die Quantencomputer kommerziell einsetzte.
Schliesslich konnte man aufgrund der plötzlich verfügbar gewordenen Rechenkraft das semantische Web mit den kommunizierenden Gegenständen verknüpfen und eine neue Web-Ära einläuten. Das Hyperweb war geboren! Eigentlich der totale Albtraum eines jeden Freigeistes, aber für die meisten Menschen war es einfach eine angenehme Sache und die logische Weiterentwicklung des bisherigen Fortschritts.
Das wahrhaftige Leben
Das Leben wurde so richtig einfach. Sensoren wurden ausgelegt und mit Kameras vernetzt, die wiederum mit dem Hypernetz verbunden waren und in dieses die erfassten Bewegungen einspiesen. Das reale Leben verschmolz mit der digitalen Welt langsam zu einem so genannten Hyperspace.
Lim zum Beispiel besuchte nach der Schule keinen Berufsberater, sondern fragte einfach booble, was er denn als Beruf erlernen solle. Booble war auf diese Frage längst gewappnet und gab ihm, auf Basis seiner Schuldaten, seinen Suchergebnissen, seiner DNA und seinen Freizeitaktivitäten eine Antwort. So sollte er es doch einmal als Elektroingenieur versuchen. Gleichzeitig schlug sie ihm eine geeignete Lehrfirma vor, welche im selben Augenblick mit den notwendigen Bewerbungsunterlagen aus den booble-Datenbeständen versorgt wurde. Und so begann er eine recht attraktive Laufbahn.
Selbst als er sich Gedanken machte, ob er vielleicht nicht doch eine Partnerin an seiner Seite möchte, kam ihm damals als erstes booble in den Sinn. Und so suchte er sich ein paar aus den Top10-Suchvorschlägen aus und verabredete sich mit ihnen, bis er Julia traf. Julia war eine ganz besondere Frau, welche es schaffte, ihn in seinem Herzen anzusprechen. Als später klar wurde, dass es auch sie im Innersten getroffen hatte, begann die Liaison Formen anzunehmen.
Lim und Julia waren zwar ziemlich unterschiedliche Charaktere, aber in ihren Idealen und Werten fanden sie viele gemeinsame Nenner. Sie waren relativ jung und idealistisch und verbrachten Stunden damit, über das politische System, die Gesellschaft und deren Entwicklung zu diskutieren. So lernten sie sich immer besser kennen und lieben, schmiedeten gemeinsam grosse Pläne für die Zukunft und schworen sich ewige Treue.
Lim war sich bewusst, dass er sich mit Julia nicht den leichtesten Charakter als Partnerin zugelegt hatte. Insbesondere ihre linken Ideale von einer freien Welt verbunden mit ihrem radikalen Tatendrang bewunderte er zwar, hatte aber gleichzeitig Angst, dass ihr das eines Tages zum Verhängnis werden könnte.
Underground
Während Lim am liebsten über Freiheit nachdachte, war Julia längst eine aktive Posterin in den entsprechenden Online-Foren. Ab und zu wagte sie sich auch im realen Leben an solche halb öffentlichen Veranstaltungen.
Da kam sie auch das erste Mal mit echten, so genannten Rebellen zusammen und fand zumindest ihre Ideen gut. Hier erfuhr sie auch das erste Mal von den neuen Chips, welche die RFID-GPS-Identifikationschips ausser Gefecht setzen konnten. Viele der Rebellen trugen einen solchen, um unerkannt, als Phantom, von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Ein paar Wochen lang trug sie den Gedanken, sich einen solchen Anti-Identifikationschip zu implantieren und aktiv in der Szene mitzuwirken, mit sich herum. Doch mit Lim darüber zu reden traute sie sich nicht. Ihm war sicherlich das Risiko, erwischt zu werden, zu hoch und die Strafe für diesen Verstoss ebenfalls.
Doch eines Tages, als sie wieder einmal bei einem solchen Treffen war, hatte sie wirklich genug schlechte Nachrichten erfahren und war bis zum Rande geladen. Sie wollte endlich aktiv mit dabei sein und gegen das System ankämpfen, wenn auch vorerst nur im Kleinen. Und so kam es, dass sie sich einen Anti-Identifikationschip implantieren liess.
Eines Abends schauten sich Lim und Julia in ihrem Wohnzimmer gerade einen der neusten Hollywood-Hologrammfilme an, als ein fünf Mann starkes Sondereinsatzkommando die Wohnung stürmte. Die ganze Aktion dauerte nur wenige Minuten, bis sie die Wohnung wieder, mit Julia in Handschellen, verliessen. Zum Abschied warfen sie Lim noch an den Kopf, dass es sich hierbei um eine vorsorgliche Festnahme unter Rebellionsverdacht und Verstoss gegen das Identifikationsgesetz handeln würde.
Das Ganze stürzte Lim in eine tiefe Krise. Er war erschüttert, dass Julia sich ohne sein Wissen ein Anti-Identifikationschip hatte implantieren lassen. Ja, er fühlte sich von ihr ein wenig hintergangen. Gleichzeitig fragte er sich natürlich, ob Julia nicht doch tiefer in der Szene steckte, als er sich vielleicht dachte. Ob vielleicht doch etwas Ernsthafteres gegen Julia vorlag, als ihm die Beamten hatten sagen wollen.
Auf der anderen Seite verunsicherte ihn das harte Vorgehen des Staates ungemein. War er überhaupt noch frei in einem solchen System? Konnte er noch denken und sagen, was er wollte oder musste auch er mit einer vorsorglichen Festnahme rechnen?
Des Systems System
Eigentlich war es boobles eigener Erfolg, welcher booble so gefährlich machte. Im Grunde genommen war booble wirklich eine wichtige und sehr nützliche Sache. Aber jeder einzelne Bürger war in der Zwischenzeit bereit, so viel über sein Privatleben Preis zu geben, um an den bequemen und allgegenwärtigen Dienstleistungen teil zu haben, wie es die Generationen vor ihnen nicht einmal dem Bundesstaat gegenüber bereit gewesen waren.
Die Neuaufteilung der Macht hatte sich schleichend mit dem ändernden Speicherort, der Daten der Bürger, von den regionalen Ländern zum nationalen Bund, hin zu den global agierenden Firmen vollzogen, ohne dass dies von den Bürgern gross zur Kenntnis genommen worden war.
Booble war inzwischen sogar so weit, dass sie kleineren Staaten wie ,zum Beispiel Liechtenstein, bereits die totale Überwachung des Einzelnen zum Schutze der Gesellschaft anbieten konnte. Doch diese Tatsache war den Medien kaum einen Fünfzeiler wert!
Blankes Erwachen
Julia erwachte in einer kahlen, zwei auf drei Meter grossen Zelle mit einer Matratze und einer Notdurftstelle. Sie war sich erst nicht sicher, ob es sich um einen schlechten Traum handelte oder ob es Realität war. Doch die schmerzenden Handgelenke von den Handschellen am Vorabend holten sie schnell wieder auf den Boden der Realität zurück.
Erschreckt stellte sie fest, dass alle unausgesprochenen, ängstlichen Bedenken real geworden waren! Sie schlug sich fest mit der rechten Hand in die linke Gesichtshälfte. Diese Ohrfeige hatte sie sich schliesslich verdient.
Sie erinnerte sich wieder daran, wie sie am Vorabend aus der Wohnung abgeführt wurde, wie sie von den Polizisten in einem Industriegebiet in ein unscheinbares, quadratisch angelegtes Gebäude gebracht worden war, dass sie durch einige Gänge geführt worden war und schliesslich mit einer Spritze in den Oberschenkel in dieser Zelle ruhig gestellt wurde.
Stunden später wurde sie von einer Wärterin abgeführt. Es ging durch ein Wirrwarr von Gängen aus dem quadratischen Gebäude hinaus in den Innenhof. Acht mal acht Meter eingeschränkte Freiheit. Sie freute sich richtig, ausserhalb ihrer Zelle in einem etwas grösseren Kreis ihre Runden drehen zu dürfen. Wobei, genau genommen, waren es keine Kreise, sondern Quadrate, zumindest Vierecke.
Je länger Julias Internierung ging, umso länger wurden die Tage, umso länger vergingen die Wochen. Sie verschlief möglichst viel von den einzelnen Tagen, aber von einem gewissen Punkt an lag sie jeweils einfach wach im Bett und wälzte Gedanken oder las im einzig verfügbaren Buch.
Sie wälzte Tausende von Wenn und Aber, hin und her, machte sich Vorwürfe und spekulierte. Sie nervte sich, dass sie wegen einer Bagatelle, dem Tragen eines Anti-Identifikationschips, eingelocht worden war und nicht wegen einem richtig bösen Vergehen.
Zudem hatte sie Angst um Lim. War er noch frei oder hatten ihn die Behörden auch schon wegen irgendeinem Vergehen interniert? Vielleicht gar wegen Mitwisserei und sie war am Ende noch schuld daran? Vermisste er sie oder hatte er schon eine andere? War er an der ganzen Situation zerbrochen oder machte er einfach so weiter, als ob nichts geschehen wäre? Wieso hatte sie in den letzten Monaten nichts von ihm gehört?
Punkt ohne Umkehr (Point of no return)
Das ganze schwappte, so unverhofft und mit einer Kraft über Lim hinweg, wie eine Tsunamiwelle und hinterliess ihn mit einem Gefühl, das einer Mischung aus Bitterkeit und Verzweiflung entsprach.
Ein Stück seines Herzens war ihm entrissen worden und er hatte nach wie vor keine Möglichkeit erhalten, etwas über den Verbleib seiner Teuersten zu erfahren.
Mit der Zeit vergingen die Wochen, Monate und seine Laune wechselte von Verzweiflung zu Wut. Lim war wütend. Wütend auf Julia, dass sie sich in diese Situation manövriert hatte. Aber am meisten war er wütend auf das System, den Staat und booble. Die Behörden schwiegen eisern und schickten ihn von Amt zu Amt und wieder zurück. Booble hingegen erachtete es erst gar nicht für notwendig, auf seine Anfragen zu reagieren. Er hatte in den letzten Monaten keine einzige Chance erhalten mit Julia Kontakt aufzunehmen. Ja, er wusste nicht einmal, wo sie war, geschweige denn, wie es ihr ginge. Sie war einfach weg!
Langsam aber sicher war er bereit alles zu hinterfragen. So recherchierte er immer mehr auf regierungs- und systemkritischen Webseiten, wobei er wusste, dass alles protokolliert wurde und er sich damit in einen Grenzbereich wagte. Je mehr er nachforschte, umso mehr Erschreckenderes erfuhr er, umso unwohler wurde ihm. Dafür begann er immer mehr zu begreifen, was Julia zu diesem einen Schritt gebracht hatte.
Die neuste staatliche Verordnung, dass sich jedermann innerhalb von fünf Jahren einem Chip-Update zu unterziehen hatte, fand er schon sehr suspekt. Aber die ihm zugespielten Insider-Informationen zu den neuen Chips hatten ihn zutiefst erschreckt.
So waren es nicht mehr nur einfache Chips, sondern kleine Körperüberwachungsnetzwerke, die sich selbst organisieren konnten. Der zentrale Nano-Chip schleuste sich nach der Implantation ins Hirn und dockte im Stirnlappenbereich an die neuronalen Zellen des Hirnes an. Über die Blutbahnen sendete er Signale an sogenannte Node-Chips, welche die Funktion hatten, aus körpereigenen Substanzen neue solcher Node-Chips zu produzieren und Daten über die Körperfunktionen zu sammeln.
Was zusätzlich noch erschreckend auf Lim wirkte, war, dass man sich mit der Implantation zugleich mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen von booble einverstanden erklärte und dass diese nun neu auch beinhalteten, dass die Chips in Zukunft direkt in die neuronalen Ströme eingreifen konnten und diese manipulieren durften!
Wenn die Entwicklung in dem Tempo weiter ginge, wie sie es bisher tat, dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis es eine Tatsache würde, dass booble alles wissen würde. Wobei es eigentlich nicht mal das war, denn dass booble alles wissen würde ginge ja noch, vielmehr war es die Tatsache, dass booble dann auch auf jede Frage eine plausible Antwort haben würde! Eine Antwort, die man jeweils zu befolgen hätte, um in der Gesellschaft nicht als unbequemer Querdenker oder gar als radikaler Sozialist zu gelten!
Lim wusste, dass sich mit diesen Schritten die zu verarbeitende Datenmenge wahrscheinlich quadrieren würde. Das müsste dann zur Folge haben, dass eine ganze neue Serverfarm mit Quantencomputern installiert werden müsste. Und das wiederum würde es nach sich ziehen, dass man eine neue Energieversorgung in der Grössenordnung eines kleinen Staates installieren würde.
Und das, das war seine einzige, reale Chance, etwas bewirken zu können! Denn die Firma, in der er arbeitete, war die einzige, welche das Patent besass, einfache und saubere Energie auf Basis von kleinen, schwarzen Löchern zu produzieren.
Das Prinzip war recht einfach. In einem Teilchenbeschleuniger, wie es ihn im CERN in Genf gibt, wird durch das Aufeinanderprallen von Goldatomen eine Miniatur-Ausführung eines schwarzen Loches produziert, welches anschliessend in einem Magnetfeld kontrolliert wird. Anschliessend wird das Magnetfeld mit dem schwarzen Loch in einen Reaktor gebracht. In diesem Reaktor werden dem schwarzen Loch kontinuierlich geringe Mengen an Materie, meistens Chemieabfälle, zugeführt. Das schwarze Loch frisst diese und gibt an die Umwelt hochenergetische Photonen ab, aus welchen dann Strom gewonnen werden kann. Kurz gesagt, die bekannte Formel von Albert Einstein, e=mc2, wird in einem solchen schwarzen Loch direkt umgesetzt. Aus Masse wird Energie.
Lim war in der neusten Projektierungsgruppe zum Bau des booble-Kraftwerkes für den Steuerungsbau verantwortlich. Und so kam er relativ einfach an die benötigten Daten heran.
Input von irgendwoher
Lim stand draussen auf einem Felsplateau. Auf seinem Arm hatte er seinen Laptop, auf dem eine Software lief, die einem Strategiespiel ähnelte, in Wirklichkeit aber sein Drohnengeschwader koordinierte, welches unter ihm in der Schlucht tanzte und seine Befehle abarbeitete.
Er legte den Laptop zufrieden auf den Boden und schaute vergnügt seinem Werke zu. Er war wirklich zufrieden und sicher, dass sein Plan funktionieren würde. Langsam kehrten seine Drohnen an ihre Lagerplätze zurück und er setzte sich neben seinen Laptop, um den Sonnenuntergang zu geniessen.
Leise seufzte er vor sich hin und dachte: „Wenn die Welt nun von meinem Plan wüsste, würde immer noch alles so weiterlaufen wie bisher? Was, wenn ihnen jetzt klar wäre, dass das einer der letzten Sonnenuntergänge sein wird? Darf ich etwas so Schönes zerstören, oder mache ich mich da an etwas schuldig? Wobei die Schönheit natürlich trügerisch ist, wenn man bedenkt, in welches System die Gesellschaft da hineingeraten ist!“
Lim befand sich in einer ethischen Zwickmühle. Sollte er alles so weiterlaufen lassen wie bisher, mit der Konsequenz, dass Georg Orwells Buch „1984“ nur ein schlechter Witz war, gegenüber dem, was nun Realität war? Oder sollte er es wagen, seinen tollkühnen Plan auszuführen und damit das System, die ganze Erde, die Galaxie und vielleicht das ganze Universum zu zerstören?
Seine Gedankengänge wurden durch ein Summen unterbrochen, das immer lauter wurde. Dann hörte es auf und er spürte etwas in seinem Nacken, kurz drauf einen stechenden Schmerz. Er schlug sich mit seiner rechten Hand in den Nacken und kehrte sich ruckartig um. Das Insekt flatterte taumelnd vor ihm. Er schlug nochmals mit voller Wucht zu, das Viech prallte gegen einen Felsen und zerschellte in tausende kleiner Teilchen.
Sofort war Lim klar, dass ihm ein Chip der neusten Generation implantiert worden war! Doch innerlich gab er sich kämpferisch. Er wusste, er würde nichts mehr gegen diesen Chip unternehmen können, sehr wohl aber noch gegen das System, und wenn es sich dabei um die totale Zerstörung handelte. Er war sich sicher, zu wissen, was seine Mission war!
Der ultimative, finale Countdown
Die Überwachungsdrohnen flogen hoch am Himmel und meldeten fast zeitgleich mit den Erschütterungssensoren die Ankunft des Konvois, der direkt vom CERN in Genf her kam.
Lim konnte erkennen, dass sich der Lastwagen mit dem bewegungsstabilisierten Container in der Mitte des Konvois befand. In diesem Container befand sich das Ziel seines Anschlages, ein schwarzes Loch, das in einem mehrere Tesla starkem Magnetfeld gefangen war.
Der Suchagent, der nach einem Lebenszeichen von Julia in den Pressemitteilungen der Behörden forschte, meldete plötzlich einen Volltreffer. Julia, so konnte Lim es der Pressemitteilung entnehmen, war vor wenigen Minuten freigelassen worden. Anscheinend war die Beweislast zu gering, um ihr noch mehr Haftzeit, als bisher vergangen war, aufzuerlegen. Die Strafe für den Anti-Identifikationschip hatte sie nun in voller Länge hinter sich.
Lim war hin und her gerissen. Sollte er sich nun bei Julia melden oder sollte er an seinem Plan festhalten? Er wusste, für seinen Plan hatte er nur diese eine Chance. Doch wenn er den Plan ausführte, hätte er auch keine Chance mehr mit Julia zu reden, denn dann würden seine Drohnen auf seinen Befehl hin das schwarze Loch entfesseln!
Lim schwanke. Sein Plan schien so perfekt, seine Situation so ausweglos und nun das! Sein Herz pochte vor Freude und plötzlich spürte er wieder etwas von Hoffnung. Und doch – er hatte nur diese eine Chance.
Mit verschwitzten und zitternden Fingern wählte er Julia in seiner Kommunikationseinheit an. Langsam begann das Ding eine abhörsichere Verbindung aufzubauen. Er drückte es gegen sein Ohr und lauschte angespannt.
Langsam nahm der Jäger für spezielle Aufgaben das Gewehr in die Hände. Er überprüfte auf dem Display nochmals die Daten mit dem Aufenthaltsort des Rebellen, während ihn in der Zwischenzeit das Gewehr aufgrund seines Fingerabdrucks als autorisierten Schützen bestätigte. Er programmierte die Automatik auf gnadenlose Eliminierung, einen Schuss ins Herz, einen zweiten in den Kopf.
Langsam legte er an und zog dann genüsslich den Abzug. Mit einem leisen „Blopp-blopp“ verliessen die zwei Schüsse den automatisch bewegungsstabilisierten Lauf und suchten sich ihren Weg durch das Tal. Im selben Augenblick meldeten die booble-Earth-Satelliten für eben jenes Tal das vorübergehende Ausfallen jeglicher Live-Überwachung.
Lim fühlte, wie plötzlich ein Blutstrahl aus seiner Brust schoss. Dann explodierte sein Schädel. Die Kommunikationseinheit entglitt seiner Hand und fiel auf die Entertaste seines Laptops runter und löste damit den Angriff auf den Transport aus. Sein Oberkörper fiel vorn über und blieb regungslos liegen.
Die Zeit blieb stehen.
Zumindest schien es so, für Beobachter ausserhalb der Galaxie.